Aktivrente: Gute Idee – aber ohne Kulturwandel nur Kosmetik

Warum viele Babyboomer nicht „einfach weitermachen“ – und was Unternehmen jetzt konkret tun sollten

Die Aktivrente bewegt – in Talkshows, Artikeln und Teams. Doch hinter Zahlen und Paragrafen steht ein sehr persönlicher Moment: der Übergang in den Ruhestand.

Stellen Sie sich Ihren letzten Arbeitstag vor: Blumen, Hände schütteln, eine Rede. Und dann: Stille. Endlich Freiheit – und gleichzeitig die Frage: Was mache ich nun mit all der freien Zeit?

Genau an diesem Punkt begegnen mir seit fast 15 Jahren dieselben Sätze in meinen Seminaren: „Mehr Freiheit, ja, unbedingt“. Das ist der erste Begriff, den meinen Teilnehmenden auf die Frage, was sie mit dem Ruhestand verbinden, nennen. Immer! Dann kommt aber fast immer auch die Sorge: „Was mache ich jetzt mit der vielen freien Zeit? Wie fülle ich die Zeit mit etwas Sinnvollem?“ Dieses „Sinnfüllende“ ist bei den meisten etwas anderes als einfach weiter arbeiten.

Meine Erfahrung: Die Rente ist eine Zäsur. Sie markiert nicht nur das Ende eines Vertrages, sondern den Start einer neuen Lebensphase – eine Lebensphase, die bewusst gestaltet sein will.

Was die Aktivrente verspricht – und wo sie zu kurz greift

Ab 1. Januar 2026 soll die Aktivrente angestellten Ruheständlerinnen und Ruheständlern ermöglichen, bis zu 2.000 € monatlich steuerfrei hinzuzuverdienen. Ziel: Know-how halten, Fachkräftemangel dämpfen. Selbständige sind bislang ausgenommen – ein Punkt, der die Debatte anheizt. Medien wie DIE ZEIT fragen zugespitzt: „Retten uns die Rentner?“ Das zeigt: Die Aktivrente ist ein Baustein – aber kein Allheilmittel.

„Geld allein zieht nicht“ – was Forschung und Praxis zeigen

Arbeitsmarktforscher Hans Martin Hasselhorn betont: Finanzielle Anreize wirken nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Viele Ältere arbeiten jenseits der Regelaltersgrenze weiter, wenn Aufgaben Sinn machen, wenn sie flexibel planen können und wenn echte Wertschätzung spürbar ist. Re‑Aktivierung nach dem vollständigen Ausstieg ist hingegen schwierig.

Langfristige Daten (z. B. lidA) stützen dieses Bild: Gesundheitsschutz, gute Arbeit und planbare Flexibilität sind die eigentlichen Hebel – nicht die Gießkanne.

Mein Blick aus 15 Jahren Arbeit mit 55+: die eigentliche Diskrepanz

In Unternehmen erlebe ich häufig beides zugleich:

  • Zu wenig Wertschätzung für erfahrene Mitarbeitende – teils sogar das frühe „Verabschieden“.
  • Ad‑hoc‑Rückholversuche nach Rentenbeginn, wenn das Know-how plötzlich fehlt.

Das ist frustrierend – und vermeidbar. Babyboomer sind heute gesünder als frühere Generationen, entscheiden aber bewusster. Anfang/Mitte 60 wird vielen klar, dass Zeit endlich ist. „Einfach weitermachen“ passt selten. Der Schlüssel ist die Standortbestimmung: Wie viel Arbeit? In welcher Rolle? Mit welchem Sinn?

Fünf Hebel, die Unternehmen bereits morgen anstoßen können

Beginnen Sie mit klaren Rollen statt „Springer für alles“: Legen Sie fest, wofür erfahrene Kolleg:innen im Spätberuf (oder nach dem Renteneintritt) gezielt eingesetzt werden – z. B. für Wissenstransfer im Mentoring/Tandem, Qualitätssicherung in kritischen Prozessen oder Projektspitzen mit klar definiertem Ziel und Enddatum. Das gibt Orientierung, vermeidet Überfrachtung und sorgt dafür, dass Erfahrung dort wirkt, wo sie den größten Hebel hat.

Planen Sie Zeit professionell, nicht opportunistisch. Bewährt haben sich 1–2 feste Tage pro Woche oder Blockeinsätze (z. B. zwei Wochen vor einem Go-Live), statt „Dauer-On-Call“ und spontaner Ad-hoc-Anfragen. Fixe Zeitfenster schaffen Verlässlichkeit – für die Menschen und für die Teams, die mit ihnen arbeiten.

Sorgen Sie für gesundes Arbeiten mit verbindlichen Standards: ergonomischer Arbeitsplatz (auch für Kurzengagements), angemessenes Tempo, planbare Pausen. Schreiben Sie das als Ministandard nieder und prüfen Sie ihn beim Onboarding. „Goodwill-Lösungen“ klingen nett, sind aber instabil – klare Regeln schützen alle Beteiligten.

Halten Sie Kontakt proaktiv: Bauen Sie einen kleinen Talent-Pool 60+ bereits vor dem Rentenstichtag auf, bleiben Sie im Gespräch und nutzen Sie eine Wiedereinstiegs-Checkliste (Zugänge, Rolle, Zeitmodell, Ansprechpartner:in, Gesundheits-/Arbeitsschutz). So wird jede Rückkehr vom ersten Tag an produktiv.

Und schließlich: Anerkennen Sie den Wert der älteren Mitarbeitenden sichtbar. Erzählen Sie die Geschichten, kurze Best-Practice-Spots im Intranet, ein Ritual zum Start und Abschluss eines Einsatzes. Machen Sie die Vorbildfunktion kenntlich (z. B. „Lead Mentor:in Digitales Archiv“), statt Leistung still in der „Reserve“ zu verstecken. Sichtbare Wertschätzung ist der Kulturtest – und der beste Rekrutierungskanal für weitere Mitstreiter:innen.

Weiterdenken & konkret werden

Fazit

Die Aktivrente kann wirken – wenn sie mit Kultur und guten Bedingungen zusammenkommt. Dann bleibt Erfahrung im System, Wissen wird weitergegeben und Menschen arbeiten mit Freude.

Quellen & weiterführende Hinweise

– Bundesfinanzministerium – Gesetzentwurf zur neuen Aktivrente (15.10.2025)
https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2025/10/2025-10-15-gesetzentwurf-zur-neuen-aktivrente.html

– Bundesregierung – Kabinett beschließt Aktivrente (15.10.2025)
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gesetzentwurf-aktivrente-2389334

– DIE ZEIT – „Retten uns die Rentner?“ (Debatte)
https://www.zeit.de/

– ddn – Prof. Dr. med. Hasselhorn: Meinungsbeitrag zur Aktivrente
https://demographie-netzwerk.de/mediathek/artikel/zu-jung-zu-alt-zusammen-3/

– INQA – Ältere Beschäftigte unterstützen
https://www.inqa.de/DE/themen/diversity/diversitaetsmanagement/den-demografischen-wandel-meistern-und-aeltere-beschaeftigte-unterstuetzen.html